Silberschwingen 2: Rebellin der Nacht (German Edition) Read online




  Das Buch

  »Wir sind mächtig, Thorn. Wenn die Welt gegen uns ist, wird es Zeit, dass wir sie verändern.«

  Der Blick in Luciens silbergrauen Augen ließ mich erahnen, wie ernst es ihm war.

  »Das klingt ja fast nach Rebellion«, scherzte ich und lauschte seinem Herzschlag.

  »Ist es eine Rebellion, wenn man für die richtige Sache kämpft?«

  »Ich weiß nicht«, gestand ich und sah ihn an. »Am Ende bleibt ein Kampf immer ein Kampf. Und da gibt es immer auch Verlierer.«

  Im Herzen der Rebellion ist niemand sicher

  Die Autorin

  © privat

  Emily Bold, Jahrgang 1980, schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene. Ob historisch, zeitgenössisch oder fantastisch: In den Büchern der fränkischen Autorin ist Liebe das bestimmende Thema. Nach diversen englischen Übersetzungen sind Emilys Romane mittlerweile auch ins Türkische, Ungarische und Tschechische übersetzt worden, etliche ihrer Bücher gibt es außerdem als Hörbuch. Wenn sie mal nicht am Schreibtisch an neuen Buchideen feilt, reist Emily am liebsten mit ihrer Familie in der Welt umher, um neue Sehnsuchtsorte zu entdecken.

  Mehr Informationen gibt es unter: www.emilybold.de

  Der Verlag

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  Viel Spaß beim Lesen!

  Prolog

  London

  Ich stürzte in die Tiefe. Die Nacht umgab mich wie ein Leichentuch, das mir den Atem nahm. Der Wind fuhr mir unter die Schwingen, riss an mir, als triebe er ein grausames Spiel. Starr vor Angst öffnete ich die Augen, sah dem Tod ins Gesicht, denn der Boden kam unbarmherzig näher. Die Lichter Londons in der Ferne schienen mich locken zu wollen, versprachen eine Sicherheit, die ich nicht erreichen konnte. Das Haar peitschte mir ins Gesicht, und ein verzweifeltes Keuchen entfuhr meiner Kehle, als ich versuchte, die Kontrolle über meine rot glühenden Schwingen zu erlangen.

  Versuch es!, tobte Luciens Stimme in meinem Kopf.

  »Lucien!«, flüsterte ich und streckte die Hand in den Himmel, als könne er mich irgendwie doch noch retten. Doch das konnte er nicht. Ich hatte ihn von mir gestoßen. Ihn hintergangen und ihm tiefe Wunden zugefügt. Lucien York würde nicht noch einmal seine Schwingen schützend über mich breiten. Im Gegenteil. Er würde kommen und mich für alles, was ich getan hatte, zur Rechenschaft ziehen. Trotzdem kam es mir vor, als könne ich sein angstvolles Flehen hören. Ich weiß, dass du es kannst!

  Es war, als würden seine Worte bis in mein Innerstes vordringen.

  Getrieben von neu erweckter Kraft riss ich die Schwingen noch weiter auseinander, um mehr Wind zu fangen. So nah über dem Boden, dass es gar nicht so einfach war. Und meine Schwingen waren neu. Wund. Und verletzlich. Der ungewohnte Auftrieb zerrte an ihnen, bis ich glaubte zu zerbersten, zu zerschellen, obwohl ich noch gar nicht auf dem felsigen Untergrund aufschlug. Noch nicht …

  Ich schrie meine Angst und meinen Schmerz hinaus, wie in der Nacht, als das Erbe des Lichts aus mir herausgebrochen war. Und wie damals spürte ich Luciens Hände auf meinem Rücken. Ich wusste, das war nicht real, dennoch linderte die Erinnerung mein Leid, und ich schaffte es in letzter Sekunde, den freien Fall zu bremsen. Ich schaffte es, den Aufwind zu lenken, zu nutzen und mit einem qualvollen Flügelschlag an Höhe zu gewinnen.

  Erleichtert blies ich den Atem aus, wiederholte die ungewohnte und anstrengende Bewegung, und tatsächlich stieg ich langsam höher. Der Boden unter mir, der Park des Anwesens von Darlighten Hall wurde kleiner und am Ende von der Finsternis verschluckt. Nur der goldene Schein meiner Schwingen erhellte den Nachthimmel wie eine Sternschnuppe. Und so fühlte ich mich auch. Als würde ich verglühen. Meine Muskeln brannten, mein Blut kochte, und mein Herz lag in Schutt und Asche.

  Auch ohne mich umzudrehen, war ich mir der Blicke der Silberschwingen hinter mir bewusst. Ich spürte ihren Hass, der mir folgte, selbst wenn ich nun mit jedem Flügelschlag an Abstand gewann. Auch Luciens Blick brannte sich in meinen Rücken. Er konnte mir nicht folgen, dafür hatte ich gesorgt. Doch warum schickte er mir nicht seine Männer nach?

  Gab er mich etwa frei? Ließ er mich wirklich ziehen?

  Ich war nicht so dumm anzunehmen, dass er mich verstand. Oder dass er mir vergeben würde.

  Nein, ich kannte Lucien. Kannte ihn inzwischen so gut, dass ich noch immer seine Küsse auf meinen Lippen schmeckte. Ich kannte ihn – und ich wusste, ein Mann wie er gab niemals auf.

  Meine Schwingen wurden schwer, der Schmerz war kaum mehr zu ertragen. Trotzdem blieb ich in der Luft stehen und wandte mich ein letztes Mal um. Die schwarzen Schemen von Darlighten Hall wirkten bedrohlich, und doch sehnte sich ein Teil von mir dorthin zurück. Zurück in die Arme des Mannes, den ich liebte. Und den ich dennoch hintergangen hatte. In die Arme des Mannes, der mich nun jagen und vernichten würde.

  Meine Flucht war noch lange nicht das Ende. Ich war in größerer Gefahr als je zuvor. Und auch Riley Scott, für dessen Sicherheit ich alles riskiert hatte, würde uns mit seinen gebrannten Schwingen nicht schützen können.

  Wir brauchten Hilfe. Und zwar dringend!

  Kapitel 1

  Ich schlich durch den Garten von Anhs Elternhaus. Die Schwingen an meinem Rücken schmerzten bei jedem Atemzug, und sie waren so schwer, dass sie mich beinahe niederdrückten. Die Dunkelheit um mich herum kam mir gespenstisch vor, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die wenigen Straßen nach Hause zu gehen und mich von meinen Eltern trösten zu lassen. Mein kleiner Bruder Jake würde einen Witz erzählen oder mir sein neuestes Detektivspielzeug vorführen. Alles in mir schrie nach dieser Normalität. Ich wollte sie wiederhaben!

  Ich wollte nicht nachts durch fremde Gärten schleichen! Und doch hatte ich keine Wahl. Wie von selbst fand ich meinen Weg, denn ich kannte den Garten gut. Anh und ich hatten als Kinder hier, in dieser von ihren Eltern künstlich angelegten Zen-Oase, viel Zeit verbracht. Ein japanischer Garten – mitten in London. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Doch als ich noch klein gewesen war, hatte ich mich wie in einer fremden Welt gefühlt. Statt Rasen gab es ordentlich gerechte Kiesbeete, statt Rosen wuchs süß duftender Jasmin, und die blassrosa Blüten der japanischen Kirschbäume waren im Frühjahr wie Schnee auf uns herabgeregnet. Zwischen Bambusgräsern rekelten sich dunkelrote Drachen aus Holz, und über kreisrunde Trittsteine erreichte man das Baumhaus, das hoch oben in einem rotlaubigen Ahorn thronte und wie ein winziger japanischer Tempel gestaltet war.

  Bedächtig setzte ich meine Füße auf die Trittsteine, um die sanften Wellen, die in den Kies gerecht waren, nicht zu zerstören. Schließlich wollte ich niemanden darauf aufmerksam machen, dass das Baumhaus nun nicht mehr so verlassen war wie in den letzten Jahren.

  »Riley!«, rief ich mit gedeckter Stimme in die Dunkelheit. Ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt hier war. Seit er früher in dieser Nacht dank meiner Hilfe aus Darlighten Hall geflohen war, hatte ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich wusste nicht, ob er den Silberschwingen überhaupt entko
mmen war. Waren sie ihm gefolgt? Hatten sie ihn erwischt und zurück in seine Zelle gebracht? Hatten sie ihn erneut gefoltert und misshandelt? Wenn ja, dann waren all die Mühen dieser Nacht umsonst gewesen. Deshalb musste Riley hier sein! Er musste einfach!

  Schon allein deshalb, weil ich diese Ungewissheit keine Sekunde länger aushielt.

  »Riley!«, wiederholte ich meinen Ruf, diesmal etwas lauter. Ich sah nach oben zum Baumhaus – doch nichts regte sich. Als ich nach der Strickleiter griff, riss diese, und die Hölzer der Stufen kamen mir krachend entgegengeflogen.

  »Na toll!«, murrte ich, feuerte die verwitterte Leiter neben den Stamm und sah hinauf in die Baumkrone. »Und jetzt?«

  »Du hast Schwingen!«, erinnerte mich eine raue Stimme hinter mir. Erschrocken und erleichtert zugleich fuhr ich herum.

  »Spinnst du?«, flüsterte ich und fasste mir ans Herz. »Was schleichst du dich so an mich heran? Ich wäre vor Schreck fast gestorben!« Ich schlug nach ihm, dann schlang ich zitternd meine Arme um Rileys Hals.

  Mit einem Mal ließ die gesamte Anspannung der letzten Stunden nach. Ein Wechselbad der Gefühle ergoss sich über mich, und ich wusste nicht, ob ich vor Schmerz weinen, vor Erleichterung lachen oder vor Angst schreien wollte. Ich wusste nicht, ob ich froh war, Lucien entkommen zu sein, oder ob ich mich damit nicht nur selbst ins Unglück gestürzt hatte. All das prallte auf mich ein, sodass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich klammerte mich an Riley, als mich ein heftiges Schluchzen zu schütteln begann.

  »Schht, Thorn«, flüsterte er mit seiner unverkennbar rauen Stimme in mein Ohr. »Es ist gut. Wir sind hier sicher.« Wie schon viele Male zuvor strich er mir beruhigend übers Haar. »Gleich kannst du schwach sein. Gleich ist es okay, aber zuerst müssen wir da hoch.« Er schob mich von sich, ohne mich wirklich loszulassen, und deutete auf das Baumhaus.

  Ich lachte hysterisch. »Die Leiter ist kaputt! Wie sollen wir …«

  Riley schüttelte den Kopf und zupfte an meinen Schwingen. »Nutz die hier, Thorn. Du brauchst keine Leiter.«

  »Ich kann sie nicht mehr bewegen«, gestand ich gequält. »Sie tun so weh. Ich …«

  Er lächelte verständnisvoll. »Kein Wunder. Ich hab echt gedacht, du gehst drauf, als ich gesehen habe, wie du dich von der Balkonbrüstung gestürzt hast. Das war total unvernünftig!« Er zwinkerte mir zu. »Sah aber verdammt geil aus!«

  Ich hustete. »Was? Mein Beinahe-Tod sah also geil aus, ja?«

  Riley grinste breit, was seinem markanten Gesicht die Härte nahm. »Jep. Das Glühen deiner Schwingen am Nachthimmel – das hatte schon was. Obwohl ich ja selbst um mein Leben gerannt bin, konnte ich nicht anders, als stehen zu bleiben und dir hinterherzustarren. Du … bist nicht gerade unauffällig, das steht fest.«

  »Leuchtend rote Schwingen sind aber auch nicht besonders praktisch, wenn man sich verstecken will«, stimmte ich ihm zu.

  »Deshalb musst du jetzt da hoch – dorthin, wo niemand deine Schwingen entdecken kann.« Er versetzte mir einen sanften Stoß und nickte in Richtung Baum. »Na los. Hoch mit dir!«

  Ich spreizte die Schwingen, wohl wissend, dass ich damit jede Silberschwinge im Umkreis auf mich aufmerksam machen würde.

  »Aber was ist mit dir?«, zögerte ich mit Blick auf die verbrannten Überreste seiner Schwingen. Er würde damit sicher niemals mehr fliegen.

  Riley folgte meinem Blick und strich sich verächtlich über die vernarbten Schwingenreste. »Keine Sorge. Hoch komm ich«, erklärte er mir. »Meine Sprungkraft reicht aus, da hinaufzukommen. Runter tut’s halt etwas weh – ohne Schwingen, die den Aufprall abfangen.« Als wäre dies etwas, womit er sich zu gegebener Zeit auseinandersetzen würde, ging er leicht in die Knie und katapultierte sich dann mit einem kräftigen Satz bis hoch zum Baumhaus. Wie ein Kavalier hielt er mir die mit weißer Seide bespannte Tür auf. »Komm schon, hier ist es richtig gemütlich.«

  Ich rollte mit den Augen. Richtig gemütlich … das glaubte ich kaum. Wenn ich mich recht erinnerte, war es selbst für uns Kinder dort oben ziemlich eng gewesen. Und Kinder waren Riley und ich ja nun wirklich nicht mehr. Noch dazu nahmen die Schwingen wirklich unpraktisch viel Platz ein. Trotzdem zwang mich der Silberstreifen des Sonnenaufgangs am Horizont, nicht länger zu warten. Mit einem schmerzhaften Flügelschlag stieg ich in die Luft und ließ mich wenig elegant neben Riley an die Tür plumpsen. Dann faltete ich die Schwingen eng auf meinen Rücken und duckte mich durch die viel zu kleine Öffnung.

  »Home sweet Home«, murrte ich mit Blick auf die Spinnweben, die von der Decke hingen.

  Riley bemerkte meine Skepsis und wischte sie achtlos beiseite. Dann setzte er sich an die Wand und zog einen Elektrostab unter seinem Mantel hervor.

  »Wo hast du den her?«, fragte ich und deutete auf die Waffe.

  »Lachte mich von der Rückbank eines Wagens in Darlighten Hall an. Ich dachte, der könnte noch nützlich werden«, erklärte er schlicht und streckte die Beine lässig von sich, wodurch er fast die gegenüberliegende Wand berührte. Gemächlich, als säßen wir in der Pause auf dem Schulhof und als stünden wir nicht auf der Abschussliste der Silberschwingen, die vermutlich alle längst hinter uns her waren, kramte er eine Packung Kaugummis aus der Hosentasche und bot mir einen an. »Setz dich, und dann erzählst du mir, was dich auf die verrückte Idee gebracht hat, mich aus Darlighten Hall zu befreien. Ist dir überhaupt klar, was du getan hast?«

  Da ich den Kaugummi ignorierte, nahm er sich selbst einen und steckte die Packung wieder ein. Dann musterte er mich kauend. Ich fühlte mich unwohl unter seinem forschenden Blick. War mir klar, was ich getan hatte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich das Gefühl gehabt hatte, keine andere Wahl zu haben. So wie auch jetzt, wo ich keine andere Möglichkeit sah, als mich ebenfalls auf den staubigen Boden zu setzen.

  Meine Schwingen schmerzten, als ich mich gegenüber von Riley an die Wand lehnte.

  »Ich glaube, ich habe sie kaputt gemacht!«, flüsterte ich und strich mir zaghaft über die rissigen Federschuppen.

  Riley beugte sich etwas in meine Richtung, ich wusste, dass die Dunkelheit seine Sicht nicht einschränkte. »Du hast sie wirklich ganz schön strapaziert. Sie sehen noch ganz weich aus. Wundert mich, dass du damit überhaupt schon fliegen konntest.« Er sah mich ernst an. »Du hättest sterben können, Thorn.«

  »Ich hatte doch keine Wahl!«, rechtfertigte ich mich, denn er klang vorwurfsvoll. »Die Oberen sind da, und Kane steckt richtig in der Klemme, weil nicht nur ihr Rebellen ihm Ärger macht, sondern auch noch einige Halbwesen in London aufgetaucht sind. Ich hatte Panik, dass er dich dafür benutzt, um vor den Oberen seine Macht und Kontrolle zu demonstrieren.«

  Riley ploppte eine Kaugummiblase. »Warte, warte … was für Halbwesen? Wovon sprichst du?« Er schien trotz der späten Stunde hellwach zu sein. Ich konnte sehen, wie seine Gedanken rasten.

  Ich winkte ab. »Keine Ahnung, Riley. Ich weiß nicht, wer die Halbwesen sind, aber sie behaupten, meine Brüder zu sein. Und dass sie Kinder von Aric Chrome sind. Das macht Kane wohl Angst. Zumindest sagt Nyx das.«

  Rileys markante Züge verhärteten sich. »Nyx sollte man nicht vertrauen. Sie … spielt zu gerne ein falsches Spiel, um zu bekommen, was sie will. So war sie schon als Kind.«

  »Eigentlich klang sie recht überzeugend. Sie hat sogar zugegeben, dass sie Lucien zurückhaben will.« Ich schluckte. Den Gedanken, dass sie dieses Ziel nach meiner Flucht nun erreicht haben dürfte, verdrängte ich. Doch der Schmerz in meiner Brust blieb.

  Wieder ploppte Riley eine Kaugummiblase, ehe er antwortete. »Ich habe Lucien gesehen. Mit dir.« Er zögerte und rutschte etwas auf dem Boden des Baumhauses herum, als suche er nach einer bequemeren Position. »Ich kenne ihn, seit wir Kinder waren, und kann seine Blicke deuten, Thorn. Lucien will dich.« Er sah mich an, als erwartete er eine Reaktion von mir.

  »Wie meinst du das? Willst du sagen … er ist in mich verliebt?«

  Riley grinste. »Nein. Das meine ich nicht. Ich denke, Lucien … beansprucht dich für sich. Du … gehörst ihm. Das meine ich. Er will dich – weil du ihm nach den Gesetzen der Silberschwingen gehörst.«

>   Riley davon reden zu hören, dass ich Lucien wichtig war, weckte die Erinnerung an seine Küsse. Und daran, wie gut es sich angefühlt hatte, ihm nahe zu sein. Doch das war nun Geschichte …

  Ich lachte bitter. »Er will mich vielleicht zurück, da magst du recht haben, Riley, aber sicher nur, um sich an mir zu rächen. Immerhin habe ich ihm bei unserer Flucht mit so einem Elektrostab ordentlich zugesetzt.« Ich deutete auf die Waffe neben ihm.

  »Gut möglich.« Riley strich sich das lange Haar aus der Stirn und sah mich nachdenklich an. Er fuhr sich unter die verkrüppelten Schwingen und tastete unter seinem Shirt die Haut ab. »Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn so ein Stromschlag durch deinen Körper jagt.« Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, seine Stimme klang rau vor Schmerz. »Du bist gelähmt, hilflos, und es fühlt sich an, als schlägt dir eine Giftschlange ihre Zähne ins Fleisch.« Er machte eine Handbewegung, um das zu verdeutlichen. Dabei verstand ich ihn wirklich ganz genau.

  Mir wurde schlecht. Wie hatte ich Lucien das nur antun können?

  »Wie ein Blitz zuckt der Strom durch dich hindurch. Deine Muskeln krampfen, du glaubst zu verbrennen …« Er hob sein Shirt, und trotz der Dunkelheit in unserem Versteck zeichneten sich die hellen Narben unter seiner Schwinge deutlich ab. Sie sahen aus wie sich verzweigende Flüsse, die knapp oberhalb seines Gürtels versickerten. »Dass Lucien nach deinem Angriff so schnell wieder stand … zeigt, wie entschlossen er dich aufhalten wollte, Thorn.«

  »Uns«, verbesserte ich ihn. »Er wollte uns aufhalten. Nicht mich. Du warst schließlich der Gefangene.«

  Riley nahm einen neuen Kaugummi aus dem Päckchen, wickelte ihn aus und tauschte ihn mit dem in seinem Mund. Erst dann sah er mich wieder an. »Er war nicht hinter mir her, Thorn. Er hat mich heute Nacht nicht aufgehalten, als ich am Tor gewesen bin. Stattdessen ist er dir nach.«

  »Er konnte es vielleicht nicht mit dir aufnehmen. Er war … verletzt«, versuchte ich, Luciens Verhalten zu ergründen, aber Riley schüttelte den Kopf.