• Home
  • Emily Bold
  • Silberschwingen 2: Rebellin der Nacht (German Edition) Page 2

Silberschwingen 2: Rebellin der Nacht (German Edition) Read online

Page 2


  »Für Lucien York wäre es ein Kinderspiel, es mit einem Krüppel wie mir aufzunehmen. Ich sage dir, Thorn: Er hat mich gehen lassen – weil ich ihm nicht so wichtig war wie du.«

  Ich wollte widersprechen, da beugte Riley sich vor und hielt mir den Mund zu. Mit dem Kinn nickte er in Richtung von Anhs Elternhaus. Hinter einem Fenster war ein Licht angegangen.

  Ich wusste genau, dass sich Anhs Zimmer hinter diesem Fenster befand. Spürte meine beste Freundin, dass ich ganz in der Nähe war? Spürte sie, wie sehnlichst ich mir wünschte, statt hier in der schmutzigen Hütte bei ihr auf dem Schlafsofa zu liegen? Mit ihr über Jungs zu tuscheln, und zwar nicht über Jungs, die mich vermutlich umbringen wollten, sondern über Jungs, die wir küssen wollten – was in meinem Fall dummerweise auf das Gleiche hinauslief, wie ich mir trotz allem eingestehen musste.

  Rileys Finger auf meinen Lippen waren sanft, und sie erinnerten mich an den Beginn dieser ganzen verrückten Sache. Damals hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, mich in dunkle Ecken des Schulhauses zu verschleppen und meine Proteste zu ersticken, indem er mir den Mund zuhielt.

  Offenbar erinnerte auch er sich daran, denn etwas verlegen nahm er die Hand schließlich beiseite.

  »Es wird langsam hell«, flüsterte er. Seine raue Stimme klang müde. »Wissen wir schon, wie es nun weitergeht?«

  Ich zuckte mit den Schultern. Einfach wie Anh aufstehen, frühstücken und die Ferien genießen, war wohl nicht drin.

  »Wir müssen hier weg. Ewig können wir uns nicht in diesem Baumhaus verstecken«, gab ich zu bedenken.

  Riley nickte, und eine Kaugummiblase platzte leise. »Wir könnten es in der alten Buchhandlung probieren.«

  »Können wir nicht. Lucien wird dort sicher zuerst nach uns suchen.«

  »Er kennt das Versteck der Shades doch nicht. Niemand kennt es. Nicht einmal Magnus.«

  Ich war dankbar um die Dunkelheit, die – so hoffte ich wenigstens – meine verlegene Röte verbarg. »Ich … fürchte, ihr müsst euch ein neues Versteck suchen«, gestand ich. »Lucien ist mir gefolgt, als ich … Conrad und die anderen warnen wollte.«

  »Du hast ihn zu ihnen geführt?« Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.

  »Nein!«, wehrte ich mich. »Also … ja, wenn du es so sagst, dann habe ich Lucien wohl dorthin geführt … aber er hat ihnen nichts getan. Es geht ihnen gut … zumindest, soweit ich weiß.«

  »Herrgott, Thorn!« Riley fuhr sich aufgebracht durchs zu lange Haar. »Du hättest besser aufpassen müssen!«

  »Ach ja?« Sein Vorwurf ärgerte mich – vermutlich, weil ich selbst wusste, dass er recht hatte. »Ist ja schon lustig, dass gerade du das sagst!« Ich funkelte ihn böse an. »Du warst es doch, der mir mitten am Tag, mitten in London vorführen musste, was Silberschwingen so alles können. Dein Leichtsinn hat Lucien und seine Männer doch erst auf uns aufmerksam gemacht.«

  Rileys Züge verhärteten sich. Er hob ein Stöckchen vom Boden auf und drehte es zwischen den Fingern. »Du kannst mir glauben, Thorn, für diesen … Leichtsinn habe ich bitter bezahlt.«

  Mein Herz blutete, so leid tat er mir. Ich hatte ihm nicht wehtun wollen. Deshalb rutschte ich zu ihm hinüber und setzte mich an seine Seite. Tröstend griff ich nach seiner Hand und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. »Es tut mir alles so leid, Riley«, flüsterte ich. »Ich fühle mich schuldig, aber ich verstehe bis heute nicht, warum du das getan hast. Ich frage mich die ganze Zeit, ob es meine Schuld war oder …«

  »Es war nicht deine Schuld, Thorn«, versicherte er mir und drehte sich, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. »Ich würde dir nie die Schuld an dem geben, was passiert ist. Ich hätte es wissen müssen. In London ist man nie unbeobachtet. Und das Erbe des Lichts lässt uns unseresgleichen erspüren. Darum waren die Shades und ich immer auf der Hut. Immer vorsichtig.«

  Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die seidenbespannten Baumhauswände und tauchten alles in ein warmes Licht. Nur Rileys verbrannte Schwingen schien der Glanz des neuen Tages nicht zu erreichen. Dunkel und tot ragten sie über seine Schultern.

  »Warum hast du diese Vorsicht an jenem Tag aufgegeben?«, fragte ich und berührte seine Schwingen sanft. Er wich nicht zurück. Ich wusste nicht, ob es ihm unangenehm war. Ob er überhaupt Schmerz dabei empfand. Oder fühlte er nichts mehr in ihnen?

  »Ich wollte dich beeindrucken«, gestand er leise und schüttelte über sich selbst den Kopf. Dann schloss er seine Hand um meine, als wollte er meine sanfte Berührung aufhalten. »Ich wollte ...«, er grinste schief, »… wohl etwas angeben.«

  »Warum?«

  Rileys raues Lachen war so warm wie die ersten Sonnenstrahlen. Er schaute mich an, als wunderte er sich über mich. »Warum?«, wiederholte er meine Frage. »Ist das nicht offensichtlich, Thorn?« Langsam verwob er seine Finger mit meinen. »Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, wen von den Shades du am liebsten magst?«

  Ich rollte mit den Augen, denn daran erinnerte ich mich wirklich noch sehr gut. »Du hättest mich das damals gar nicht fragen brauchen, denn kurz darauf hast du der ganzen Klasse, inklusive Miss Shepherd, deutlich gemacht, dass du mein neuer Freund bist!« Die Erinnerung ließ mich schmunzeln, und ich verpasste seinem Bein einen zaghaften Hieb mit der Fußspitze.

  Riley lachte und legte seinen Arm um mich, wie damals, als er mich so in die Klasse geführt hatte. »Ich konnte doch nicht riskieren, dass du Sam oder Conrad oder noch schlimmer – Garret – auswählst. Es hätte mir das Herz gebrochen, dich mit einem anderen zu sehen.«

  »Idiot!«, kicherte ich. »Überhaupt weiß ich nicht, was das alles mit dem Tag am Buckingham Palace zu tun hat?«

  Riley grinste immer noch. Er streichelte meine Schulter und sah mir in die Augen. Seine Iris war unnatürlich dunkel. Sie zeugte deutlich von seiner Silberschwingen-Abstammung, auch wenn sie keinen so geheimnissvollen Glanz wie Luciens hatte. »Es hat alles damit zu tun, Thorn«, flüsterte er und beugte sich näher zu mir. »Ich war leichtsinnig, wollte dich beeindrucken, weil ich … weil ich dich mag.« Kurz schloss er die Augen, dann sah er mich wieder an. »Ich weiß, ich bin ein verkrüppelter Silberschwingen-Rebell ohne Zukunft. Und du bist Luciens Versprochene. Aber ich wollte trotzdem, dass du das weißt.«

  Der sanfte Kuss, den er mir auf die Lippen hauchte, war vorbei, noch ehe ich reagieren konnte. Riley zog sich zurück, nahm seinen Arm von meiner Schulter und rückte etwas von mir ab. Er schien keine Antwort zu erwarten, trotzdem fühlte es sich so an, als müsste ich etwas darauf sagen.

  Aber was? Wie sollte ich ihm gestehen, dass ich seine Gefühle nicht erwiderte? Und dass mein Herz ausgerechnet für denjenigen schlug, der ihn so grausam bestraft und ihm dadurch seine Schwingen genommen hatte? Wie sollte er verstehen, dass ich mich entgegen aller Vernunft in den Mann verliebt hatte, der uns nun jagte?

  »Riley, ich …«

  Er hielt mir erneut den Mund zu. »Sag jetzt nichts. Nimm das, was ich gesagt habe, einfach als Wahrheit hin. Oder als Dank für meine Rettung.« Langsam löste er seine Finger von meinen Lippen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dir wichtig genug bin, so viel für mich zu riskieren.«

  »Du bist mein Freund!«, erinnerte ich ihn. »Für seine Freunde riskiert man so einiges, aber wenn uns nicht bald einfällt, wohin wir gehen könnten, dann haben wir mit diesem Fluchtversuch einen Riesenfehler gemacht.«

  Er nickte. »Ja, ich nehme nicht an, dass Lucien sich noch einmal für meine Bequemlichkeit in der Zelle einsetzt.«

  Ich horchte auf. »Von was redest du? Welche Bequemlichkeit?« Ich erinnerte mich an meine Verwunderung über die Möbel in Rileys Kellerverlies, aber nach unserer aufregenden Flucht hatte ich das schon wieder total vergessen.

  »Nachdem ihr beide bei mir in der Zelle wart – und Lucien und ich uns geprügelt …«

  »Ich erinnere mich an euren dämlichen Kampf! Erzähl mir lieber, was es mit den Möbeln auf sich hat!«

  Riley hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut. Du hast ja recht. Der Kampf war dumm. Ich hab mir den spärlichen Überrest meiner Schwingen dabei übel zugerichtet.« Er zwinkerte mir zu und ließ eine riesige Kaugummiblase platzen. »Aber es hat gutgetan, das kannst du mir glauben. Ich hab ihm doch ordentlich eine mitgegeben, oder nicht?«

  Der Anblick von Luciens dunklem Bluterguss stand mir noch deutlich vor Augen. Die Erinnerung daran, wie er mich gezwungen hatte, seine eingerissene Silberschuppe zu verarzten … der Duft seiner Haut, sein Blick, als ich dabei unnötig grob vorgegangen war …

  »Du hast ihn verletzt«, gab ich zu und versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. »Bist du nun zufrieden?«

  »Ein wenig.« Er streckte sich und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Aber ich glaube, Lucien hat sich nach dem Kampf so richtig schlecht gefühlt, denn warum hätte er mir sonst plötzlich Bett, Tisch und Stuhl bringen lassen sollen? Ich habe sogar einige Bücher und Kaugummis bekommen. Damit hatte ich echt nicht gerechnet.«

  Ich atmete tief ein. Mit einem Mal kam mir das Baumhaus zu eng vor. Ich brauchte Luft, musste kurz allein sein. Musste nachdenken. Konnte es sein, dass Lucien mir zuliebe für Riley gesorgt hatte? War es ihm ernst gewesen, als er mir versichert hatte, für dessen Sicherheit zu sorgen?

  Ich kämpfte mich vom Boden hoch und knetete meine Hände. Ich musste hier raus!

  »Thorn? Was …?«

  Als Riley die Hand nach mir ausstreckte, wich ich zurück.

  »Wir hatten einen Deal«, murmelte ich und stolperte zur Tür. »Lucien und ich, meine ich. Mein Gehorsam – für deine Sicherheit.«

  Ich riss die Tür auf und spreizte die Schwingen.

  »Thorn!«, warnte mich Riley und versuchte, mich zu fassen zu bekommen. »Komm wieder rein!«

  In meinem Kopf wirbelten tausend Gedanken. Und alle galten Lucien. Erinnerungen an ihn vermischten sich mit der Vorstellung, was er mir für meinen Verrat antun würde. Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete erleichtert durch, als der Wind angenehm meine im Nacken verschwitzten Haare kühlte.

  Hatte Lucien Wort gehalten? Hatte er wirklich für Rileys Schutz sorgen wollen? Und selbst wenn, hätte er sich in dieser Sache gegen seinen Vater durchsetzen können?

  Ich rieb mir die müden Augen. Das alles war so sinnlos! Es war zu spät, sich diese Fragen zu stellen. Ich hatte meine Wahl getroffen. Hatte Lucien verraten, hintergangen und seinem Clan den Rebellen entwendet. Das würde er mir nie verzeihen. Denn mein Gehorsam war der Preis, den er gefordert hatte. Für meine und Rileys Sicherheit. Ein Preis, den zu zahlen ich nicht bereit gewesen war.

  Ich spürte die Träne, die mir heiß wie Feuer über die Wange rann. Schmeckte ihr Salz auf meiner Lippe. Mir war kalt, und ich hob meine Schwingen der aufgehenden Sonne entgegen. Ihr rotes Glühen würde für jeden, der kein Mensch war, weit zu sehen sein, doch das war mir egal. Ich brauchte die Wärme, denn eine dicke Eisschicht hatte sich um mein Herz gebildet.

  »Sind die Schwingen deiner Brüder genauso auffällig wie deine?«, kam Rileys Stimme aus der Hütte. Ich spürte, dass er näher kam. Spürte, dass er die Arme nach mir ausstreckte, noch ehe er mich wirklich berührte. Trotzdem zuckte ich zusammen, als seine Körperwärme mich durchströmte. Wärme, die ich zu gerne genossen hätte, die mich aber schmerzlich an die tröstliche Umarmung einer ganz anderen Silberschwinge erinnerte.

  »Ich habe nur einen von ihnen gesehen«, flüsterte ich, denn unter uns trat gerade Anhs Vater vor die Haustür, um die Zeitung zu holen. Wie von selbst schlossen sich meine Schwingen schützend um uns, damit wir vor menschlichen Blicken verborgen waren. »Er hat ebenfalls rötliche Schwingen. Er hat gesagt, sein Name wäre Niklas Chrome.«

  Ohne zu uns hochzusehen, verschwand Anhs Vater mit seiner Zeitung im Haus. Ich öffnete die Schwingen und trat zurück. Rileys Nähe schmerzte mich, denn sie machte mir deutlich, was ich aufgegeben hatte.

  »Niklas Chrome …«, murmelte Riley und strich sich die Haare aus der Stirn. Er spuckte seinen Kaugummi achtlos in das sauber gerechte Kiesbeet unter uns und nahm sich einen neuen. »Denkst du, Niklas Chrome würde uns helfen?«, schlug er vor und steckte sich den nach Pfefferminz duftenden Kaugummi in den Mund.

  »Vielleicht. Aber wie sollen wir ihn finden?«

  Riley runzelte die Stirn und ploppte eine Kaugummiblase.

  »Wir könnten uns von ihm finden lassen«, schlug er nachdenklich vor.

  »Uns finden lassen? Wir sollen uns also zeigen?« Die Idee war doch dämlich! »Und wie kommst du darauf, dass uns die Silberschwingen nicht zuerst finden?«

  Riley grinste und zwinkerte mir zu. »Manchmal … braucht man einfach etwas Glück!«

  Kapitel 2

  Mit nacktem Oberkörper stand Lucien vor dem Spiegel. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln zuckten.

  »Du solltest sie hinrichten lassen, dafür, dass sie dir das angetan hat«, zeterte Nyx und strich Lucien zaghaft mit einem feuchten Tuch über die Wunden. Ihr silbernes Haar schillerte regenbogenfarben im Licht der aufgehenden Sonne, und ihre helle Haut wirkte vor Sorge noch blasser.

  Lucien hob den Arm, um ihr den Zugang zur nächsten Verbrennung zu erleichtern. Etliche blutrote Male verunstalteten seine Haut und breiteten sich wie Wurzeln über seinen Oberkörper aus. Es würde lange dauern, bis diese Narben verblassen würden, das wusste er.

  Er zuckte leicht, als Nyx die heilende Tinktur auftrug. Der Geruch von Aloe und Alkohol stieg ihm in die Nase, als die wässrige Flüssigkeit sein Fleisch berührte.

  Nyx hielt in der Bewegung inne. »Ich weiß, es brennt, aber …«

  »Ich halte es aus!«, brummte Lucien und bedeutete ihr mit einem Nicken weiterzumachen. Und tatsächlich war es nichts gegen den Schmerz, der tief in seinem Innersten wütete. Nie hätte er gedacht, dass seine Gefühle für Thorn so stark waren, dass ihr Verrat ihn derart in die Knie zwang. Wut und Zorn loderten in ihm. Er sann auf Rache. Er wollte sie sich unterwerfen, bis ihre Lippen vor Angst zittern würden. Und zugleich sehnte er sich danach, diese Lippen zu küssen. Mit seiner Zunge ihren Mund zu erobern, bis er ihre Hingabe schmecken konnte.

  Wieder zuckte er zusammen, als Nyx die Tinktur direkt unter seiner kraftlosen Schwinge auftrug.

  »Entschuldige«, flüsterte sie und sah ihn mitleidig an.

  Lucien riss ihr das Tuch aus der Hand und griff selbst zur Flasche mit der Tinktur. »Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich will hier fertig werden!« Achtlos rieb er sich die Medizin über die Wunden und sog dabei zischend die Luft ein, als das Brennen bis in die Haarwurzeln zu spüren war.

  »Lass deine Wut nicht an mir aus!«, fuhr Nyx ihn schmollend an und setzte sich mit verschränkten Armen auf sein Bett. Sie strich sich das feine Silberhaar auf den Rücken und musterte ihn.

  Lucien wusste, dass er gerade nicht fair war. Aber niemand zwang Nyx, hier bei ihm zu sein. Genau genommen wäre er gerne allein gewesen, doch Nyx machte keinerlei Anstalten zu gehen. Sie betrachtete ihn wie immer ohne Scheu, als wäre sie nach wie vor seine Versprochene.

  »Sag doch mal was, Lucien!«, forderte sie nun und schob ihre Unterlippe nach vorne. »Seit dieses verfluchte Halbwesen vom Balkon geflogen ist, schweigst du mich an. Was hast du jetzt vor? Warum hast du nicht längst Kanes Männer hinter ihr hergeschickt?«

  »Ich schicke niemanden hinter ihr her«, erklärte er kühl und streifte sich ein dunkles Hemd über, obwohl schon diese leichte Berührung auf seinen Wunden scheuerte.

  »Du lässt sie einfach davonkommen?« Nyx stand auf, strich sich die hellsilbrigen Schwingen glatt und trat hinter ihn. Sie begutachtete ihr gemeinsames Bild im Spiegel und legte ihm die Arme um die Hüfte.

  Entschieden schob Lucien sie von sich. Sein Blick war eisig und seine Züge verhärtet. »Ich lasse sie nicht entkommen, Nyx. Aber wenn jemand hinter Thorn herjagt, dann werde ich das sein!«

  »Du nimmst das alles zu persönlich …«

  »Zu persönlich?«, unterbrach er sie und funkelte sie warnend an. »Du vergisst, dass Thorn meine Versprochene ist!«

  Nyx lachte hell auf. »Deine Versprochene? Du meinst: Sie war deine Versprochene, richtig? Du kannst unmöglich vorhaben, dieses Bündnis nach dieser Nacht noch einzugehen. Du kannst sie nicht zu deiner Gefährtin machen!«

  »Was ich tue, geht niemanden etwas an!«

  Nyx stampfte mit dem Fuß auf. »Lucien! Du kannst kein Mädchen, das unsere Feinde aus der Gefangenschaft befreit, an deine Seite nehmen! Du wirst irgendwann den Clan führen. Meinst du, die Silberschwingen folgen einem Mann, der sich von einem Halbwesen den Kopf verdrehen lässt?«

  Mit zwei schnellen Schritten war Lucien bei Nyx und packte ihre Kehle. Ihr Stöhnen ging in seinem zornigen Knurren unter.

  »Niemand verdreht mir den Kopf!«

  »Du lügst! Ich habe euch gesehen! Du hast sie geküsst!« Nyx umklammerte seine Finger, um seinen Griff zu lockern. »Im Pavillon! Du warst bei ihr – und ich habe euch gesehen, also lüg mich nicht an!«

  Lucien sah den Zorn und die Enttäuschung in Nyx’ blaugrau schimmernden Augen. Und obwohl er bisher immer darauf Wert gelegt hatte, dass es ihr gut ging, überwog diesmal seine Wut.

  »Du schleichst mir nach? Beobachtest mich? Was geht es dich an, wen ich küsse? Was geht es dich an, wen ich liebe?«

  »Du liebst sie nicht!«, kreischte Nyx und schlug nach ihm. »Du kannst dieses Halbwesen nicht lieben, Lucien! Du warst mir versprochen! Schon immer! Der Platz an der Spitze des Clans gehört mir! Und ich habe dich nie hintergangen! Ich hätte dich nie verlassen!«

  Das Flehen in ihrer Stimme drang langsam in Luciens zornumnebelten Verstand. Er löste seinen Griff, ohne sie freizugeben. »Es tut mir leid, Nyx«, flüsterte er und fuhr zärtlich über die Stelle an ihrem Hals, an der er gerade noch zugepackt hatte. Er ließ seinen Blick über ihre zierliche Gestalt wandern, ehe er ihr in die schönen Augen sah. »Ich wünschte, die Dinge zwischen uns wären nie aus dem Ruder gelaufen. Ich wünschte wirklich, Riley wäre nie mit Thorn hier aufgetaucht. Dann hätte ich mir mein Leben lang einreden können, an deiner Seite glücklich zu sein. Und ja, das wäre ich wohl auch gewesen.«

  Nyx hob ihre Hand an seine Wange, dabei rannen Tränen über ihr Gesicht. »So kann es immer noch sein«, wisperte sie.

  Lucien schüttelte den Kopf. »Nein. So kann es nie wieder sein.« Er griff nach ihrer Hand, um ihre Berührung zu unterbinden. »Thorn ist meine Versprochene. Jetzt und für immer. Ich weiß, dass dir das wehtun muss, aber ich kann es nicht ändern. Und ich will es nicht ändern. Thorn ist immer noch wichtig für uns Silberschwingen. Ein Bündnis mit ihr kann Frieden bringen. Du weißt, wie sehr ich mir Frieden für unser Volk wünsche. Die Fehde zwischen Kane und Aric, zwischen Halbwesen und Silberschwingen, zwischen Rebellen und Gesetzestreuen – zwischen den Clanoberhäuptern und den Oberen … das alles muss aufhören.«